Lara Halter, 2021 :
Raphael Ritz (1829–1894), Mädchen aus Savièse, 1890, Öl auf Leinwand, 51.00 x 36.50 cm, Kunstmuseum Wallis, Inv. BA 1095 (WR 1972, I, 81) (1) Bereits der nächste steinerne Pfadabschnitt wäre der letzte, auf welchem das Mädchen dem Betrachtenden gegenübersteht. Der geebnete und beleuchtete Steinpfad endet abrupt und führt weiter hinunter auf den erdigen Boden. Wie der steinerne Absatz, markiert auch der aus Baumstämmen gefertigte Zaun eine horizontale Abgrenzung. Das Mädchen, in bäuerlicher Kleidung und Hut, lehnt sich an einen dieser querliegenden Zaunpflöcke und verkörpert das zentrale Element des Gemäldes. In der einen, den Holzbalken überquerenden Hand hält sie einen Blumenstrauss mit weissen, gelben und blauen Blüten. Die andere Hand scheint ihre Schürze nach oben zu ziehen. Verträumt, melancholisch oder womöglich der Natur lauschend blickt sie nach oben und scheint gedanklich weiterzugehen als es ihr diese Grenze erlaubt. Als wäre der Moment unendlich, ist sie nachdenklich stehengeblieben, obwohl die freie Natur noch weiterreichen würde. Wohin führt dieser Weg und woher kommt das Mädchen? Das Mädchen scheint vom Haus im Hintergrund zu kommen und hat wohl unterwegs dieses kleine Blumensträusschen gesammelt. Sie trägt eine typische Savièser Kleidung, welche aus dem traditionellen Kleid besteht, auch «cotën» auf Patois genannt, der darüberliegenden Schürze und einem nach hinten spitz zulaufenden Halstuch (2). Nicht zu übersehen sind die weisse, langärmlige Bluse unter dem Kleid wie auch die weissen Wollsocken, welche oberhalb der hochgeschlossenen, derben Schuhe hervorlugen. Was zu Beginn wie zwei geflochtene Zöpfe aussehen könnte, sind in Wirklichkeit die Schleifen des Savièser Huts, welche auch zusammengebunden werden. Üblicherweise wurde das Haar nach hinten zu einem flachen Knoten gebunden. Das Fehlen des festlichen «mandzon», einer traditionellen kurzen Jacke sowie des bestickten und fransigen Halstuchs zeigen, dass es sich hierbei um die Alltagskleidung handelt (3). Die gefällten Baumstämme scheinen stabil und mächtig im Vergleich zur Körpergrösse des Mädchens. Sie markieren die Grenze zu einer Aussenwelt, ausserhalb von Savièse und den ihm bekannten Traditionen sowie seiner Sprache, dem Patois. Zaunpfosten, wie sie auch in Ritz’ Werk Wallfahrer von Savièse (Öl auf Leinwand, 1893, Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Bern) zu sehen sind, waren Teil seines Augenmerks und beinhalten eine eigene detaillierte Farbenvielfalt (4). Sie scheinen die Grenze zu einer Idylle zu markieren, in welcher sich das junge Mädchen befindet, welche zugleich ihr blühendes und frisches Wesen reflektiert. Diese Farbenvielfalt und -intensität ist bemerkenswert und zeigt, im Vergleich zur «dunkel» beurteilten Düsseldorfer Malerschule, dass Ritz in den 1880-90ern eine reichere Farbpalette verwendete (5). Mit ihrer traditionellen Kleidung verkörpert das Mädchen eine ländliche Schönheit und repräsentiert zugleich ihre Region. Mit der Öffnung dieser Grenze erfährt Savièse einerseits Fortschritt und Tourismus, andererseits riskiert es aber zugleich den Verlust von Traditionen (6). Wie dies das Format bereits hervorruft, so scheint das Werk postkartenartig wie eine sentimentale, gar kitschige Erinnerung an einen Ort und bewirbt diesen zugleich – so wie Ritz wahrscheinlich seinem Publikum und potenziellen Kunden gefallen wollte. 1) Werk reproduziert in Eidenbenz, Céline (dir.), Raphael Ritz. Fabrique d’un Valais exotique / Schöpfer eines exotischen Wallis, Katalog zur Ausstellung: Sion, Le Pénitencier (16.10.21-5.6.2022), Sion, Musée d’art du Valais; Zürich: Scheidegger & Spiess, 2021, S. 6. Werk aufgeführt in: Ruppen, Walter, Raphael Ritz (1829-1894). Das künstlerische Werk (Katalog der Werke), 1972. 2) Bretz-Héritier, Anne-Gabrielle, « Les vêtements féminins», in Le Costume de Savièse. Patrimoine vestimentaire de 1860 à nos jours, Savièse: Editions de la Chervignine, 2011, S. 121-210. 3) Idem. 4) Ruppen, Walter, Raphael Ritz 1829-1894. Leben und Werk. Ein Walliser Maler des 19. Jahrhunderts aus der Düsseldorfer Schule, Vira: Schritt-Verlag Carl Dürr, 1971, S. 68. 5) Ibid, S. 62-66. 6) Flubacher, Christophe, « Le costume et l’art pictural, œuvres de Ritz (1829-1894), de Burnat-Provins (1872-1952) et de Vallet (1876-1929)», in Le Costume de Savièse. Patrimoine vestimentaire de 1860 à nos jours, Savièse: Editions de la Chervignine, 2011, S. 279-290.