Olga Titus (* 1977, artiste vidéaste)
Han äs Härzeli wie äs Vögeli


Picture

Josiane Imhasly, 2020 :

Olga Titus (*1977), Han äs Härzeli wie äs Vögeli, 2006, Video, 2’20’’, Kunstmuseum Wallis, Sitten, BA 3274 In einer farbgesättigten, romantisch-nostalgischen Umgebung tanzt im Video Han äs Härzeli wie äs Vögeli (2006) eine Frau mal in Schweizer Tracht auf dem Balkon eines Chalets, mal in indischer Kleidung vor einer alpinen Landschaft oder in den Bogenfenstern eines indo-islamischen Gebäudes. Der Tanz, der in Olga Titus’ (*1977 Glarus) Werk eine zentrale Stellung einnimmt, versinnbildlicht kulturelle Verhaftungen und dient in dieser Arbeit insbesondere dazu, die Protagonistin durch den körperlichen Ausdruck kathartisch von ihrer Sehnsucht nach Heimat zu befreien. Der Film zeigt einen runden Ausschnitt und erinnert an ein Kaleidoskop, wenn Blumen oder auch die Tänzerin sich verdoppeln und um die eigene Achse drehen (1). Mit diesen Bildstrategien wird die Idee einer beweglichen Identität visualisiert und ein immersives Erlebnis geschaffen. Ein animiertes «Vögeli» fliegt immer wieder quer durchs Bild: Es ist der titelgebende freie Vogel aus dem Schweizer Volkslied S’isch mer alles eis Ding (in etwa: es macht keinen Unterschied für mich), der sinnbildlich für die zwischen den Kulturen hin- und herfliegende Titus steht. Playback und übersetzt auf Hindi – die Stimme gehört der Sängerin Sangeeta Kumar – singt sie das besagte Stück, welches vom Schweizer Sounddesigner und DJ Tobias Jost (aka TBR) im Bollywood-Stil vertont wurde. Auf der Audioebene überlagern sich somit verschiedene Autorschaften und mit ihnen verbundene Zuschreibungen, während auch auf der Bildebene mit Schichtungen gearbeitet wird: Weiss bestrumpfte und rot beschuhte überlagern sich mit nackten Füssen und die in Tracht gekleidete Protagonistin mit jener im Lehenga; der Taj Mahal und das Bundeshaus überblenden ineinander. Titus bedient sich pauschalen Vorstellungen über Indien und die Schweiz, die sich über Bollywood und Heimatfilm ins kollektive Gedächtnis eingenistet haben (2). In diesen gefühligen Filmen geht es meist um (Heimat-)Liebe, die auch zentrales Thema des Volkslieds S’isch mer alles eis Ding ist. Was sich formal in den Überlagerungen und inhaltlich in der Heimatliebe – oder viel mehr «Heimatlieben» – zeigt, kann als eine hybride Identität gelesen werden. Hybride Identitäten bilden sich bei Menschen, die von mehreren Kulturen geprägt werden (3). Die Befragung von solchen Identitätsprozessen ist denn auch zentrales Thema in Titus’ Werk und das Video Han äs Härzeli wie äs Vögeli kann als mit ihrer Biografie verwobener Startpunkt dafür gelten. Die Künstlerin wuchs im dörflichen Sulgen im Thurgau auf, als Tochter einer Bündnerin und eines Malaien mit indischer Abstammung. Im Video tritt sie, wie so oft in ihren Arbeiten, selbst als Protagonistin auf. Sie setzt klischeebehaftete Bilder ein, um Stereotypen zu hinterfragen, von welchen sie als Frau mit Migrationshintergrund selbst betroffen ist. Mit der Verkörperung dieses Hybridzustands – mit Witz, Ironie und Lust an der Übertreibung – weist sie weit über ihre persönliche Geschichte hinaus. Ähnlich wie bei Pipilotti Rist ist der Feminismus selbstverständlicher Teil ihrer künstlerischen Haltung – und mit Rist verbindet sie auch die Lust an überbordenden Bildern. Sie umarmt den Kitsch und in dieser Umarmung entfaltet sich ein grosses expressives Potenzial. 1) Die Kamera wurde von Olga Titus und Jonas Meier geführt. 2) Während eines sechsmonatigen Studienaufenthalts am College of Fine Arts in Trivandrun in Kerala 2005 recherchierte Titus für den Film. Hier erlernte sie auch den sogenannten «Cinematic Dance», der in Bollywood Filmen eine wichtige Rolle spielt. 3) Der Begriff der Hybridität ist ein äusserst vielschichtiger und wird in diversen Disziplinen benutzt, u. a. in politischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen der Postcolonial Studies. Homi K. Bhabha war einer der ersten, der den Begriff in diesem Bereich prägte. Seiner Ansicht nach kann die Hybridisierung von Kolonisierten zu einer Form des Widerstands gegenüber den Kolonisatoren werden. Gleichsam wehrt sich Bhabha gegen eine unkritische Begeisterung gegenüber dem Hybriden im westlichen Multikulturalismus, da dieser Minderheitskulturen letztlich entpolitisiere (vgl. Mar¬ía do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Transcript Verlag, Bielefeld, 2015, S. 235 ff.).